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11.10.2024 | permalink
Welthungerindex: Kaum Fortschritte im Kampf gegen den Hunger
Die Botschaft ist nicht neu, die Zahlen nun aber wieder auf dem neusten Stand: Das Ausmaß des Hungers auf der Welt ist schwindelerregend und Fortschritte gibt es kaum zu vermelden. Noch immer hungern rund um den Globus 733 Millionen Menschen und in einigen Ländern mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Afrika südlich der Sahara sowie Südasien bleiben die Regionen mit den höchsten Raten. Krisen wie bewaffnete Konflikte, die Folgen des Klimawandels und die hohe Verschuldung überschneiden und verstärken sich gegenseitig. Das geht aus dem Welthunger-Index (WHI) 2024 hervor, der am 10. Oktober im Vorfeld des Welternährungstages von der Welthungerhilfe und der irischen Hilfsorganisation Concern Worldwide veröffentlicht wurde. „Es ist inakzeptabel, dass die Weltgemeinschaft ihrer Verpflichtung, den Hunger zu beenden, nicht ausreichend nachkommt. Wir wissen, dass die globalen Krisen unmittelbare Auswirkungen mit schwerwiegenden Folgen für die Ernährungslage der Familien haben und ihre Fähigkeiten erschöpfen, immer neue Schocks zu bewältigen“, betont Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe. Die internationale Gemeinschaft hatte sich eigentlich dem Ziel verpflichtet, bis 2030 den Hunger auf der Welt zu beseitigen, doch seit 2016 ging es kaum mehr voran. In 22 der im WHI untersuchten Ländern hat der Hunger seither zugenommen und in 20 Ländern sind die Erfolge weitgehend zum Erliegen gekommen. Besonders betroffen sind die ärmsten Länder und Menschen. Verschärft wird die Lage aber auch durch die Folgen mangelnder Geschlechtergerechtigkeit. „Frauen und Mädchen sind am stärksten von Hunger betroffen und leiden unverhältnismäßig stark unter den Folgen des Klimawandels,“ warnt die Welthungerhilfe.
Der Welthunger-Index wird jedes Jahr von den beiden Organisationen herausgegeben. Die diesjährige Ausgabe wertete Daten zur Ernährungslage von 136 Ländern aus und fasst im Index vier Indikatoren zusammen: Den Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung (gemessen an der Deckung des Kalorienbedarfs), den Anteil von Kindern unter fünf Jahren, deren Wachstum verzögert ist (zu geringe Körpergröße im Verhältnis zum Alter – ein Anzeichen für chronische Unterernährung), der Anteil der unter Fünfjährigen, die an Auszehrung leiden (zu niedriges Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße – ein Beleg für akute Unterernährung) sowie die Sterblichkeitsrate von Kindern in dieser Altersgruppe. Darauf basierend wird der WHI-Wert auf einer 100-Punkte-Skala ermittelt, wobei 100 der schlechteste Wert ist. Die Lage jedes Landes wird als niedrig, mäßig, ernst, sehr ernst oder gravierend eingestuft. Für 127 Länder waren ausreichend Daten vorhanden, um WHI-Werte für 2024 zu berechnen, für die restlichen 6 bewerteten Länder konnte aufgrund unvollständiger Datenlage kein Wert ermittelt werden, aber für drei dieser Länder (Burundi, Südsudan und Lesotho) wurde aufgrund anderer Datengrundlagen eine vorläufige Einstufung in die WHI-Kategorien vorgenommen.
Demnach ist in 42 Ländern die Hungersituation nach wie vor ernst oder sehr ernst. Sehr ernst ist sie in sechs Ländern: Burundi, Jemen, Madagaskar, Somalia, Südsudan und Tschad. Dem Bericht zufolge haben sowohl Somalia als auch der Tschad mit den sich gegenseitig verstärkenden Auswirkungen von Konflikten, Klimawandel und Wirtschaftsabschwüngen zu kämpfen. Der Jemen sei besonders von Konflikten und Klimaextremen betroffen, und Madagaskar stehe vor extremen Herausforderungen durch den Klimawandel. Somalia hat mit 44,1 den höchsten berechenbaren WHI-Wert aller Länder im Ranking. Das Land ist mit einer langwierigen Hungerkrise konfrontiert, während der Staat nur begrenzt in der Lage ist, grundlegende Regierungsfunktionen auszuführen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung (51,3 %) war im Zeitraum 2021–2023 unterernährt und konnte also dauerhaft ihren Mindestbedarf an Kalorien nicht decken – damit verzeichnet Somalia bei diesem Teilindikator den zweithöchsten Wert nach der Demokratischen Republik Kongo (53,5%). Bei den 36 Ländern mit ernster Hungerlage führten die Demokratische Republik Kongo, Haiti und Niger das Ranking an. Der Bericht stuft für weitere 37 Länder den Schweregrad des Hungers als „mäßig“ ein. Hier haben Gambia, Laos und Namibia die höchsten Werte und liegen damit eng an der Schwelle zu einer ernsten Hungerlage. In 51 weiteren Ländern sind die Hungerwerte „niedrig“.
Besorgniserregend ist, dass sich die Situation vielerorts kaum verbessert. In 20 Ländern mit mäßigen, ernsten oder sehr ernsten WHI-Werten für 2024 stagnierten die Fortschritte weitgehend – ihre WHI-Werte für 2024 sind im Vergleich zu 2016 um weniger als 5% gesunken. Doch trotz aller Krisen gebe es auch Hoffnung, betonen die Autor*innen: Länder wie Bangladesch, Mosambik, Nepal, Somalia und Togo haben ihre Werte deutlich verbessert, auch wenn der Hunger dort weiterhin ein Problem bleibt. Der globale WHI-Wert für 2024 beträgt 18,3, was als mäßig gilt und nur leicht unter dem Wert von 2016 (18,8) liegt. Doch dieser Wert verdeckt erhebliche regionale Unterschiede: In Afrika südlich der Sahara und in Südasien, wo der Hunger nach wie vor als ernst eingestuft wird, ist die Situation am desolatesten. Der hohe regionale WHI-Wert für Afrika südlich der Sahara (41,7) ist auf die mit Abstand höchste Unterernährungs- und Kindersterblichkeitsrate aller Regionen zurückzuführen. In Südasien spiegelt die Einstufung (37,6) die zunehmende Unterernährung und den anhaltend schlechten Ernährungszustand von Kindern wider. „Das Ziel Zero Hunger bis 2030 scheint unerreichbar. Weltweit haben 733 Millionen Menschen – deutlich mehr als noch vor zehn Jahren – keinen Zugang zu ausreichend Kalorien, und 2,8 Milliarden Menschen können sich keine gesunde Ernährung leisten. Die akute Ernährungsunsicherheit und die Gefahr von Hungersnöten nehmen zu, Hunger wird zudem vermehrt als Kriegswaffe eingesetzt,“ schreiben Mathias Mogge, Vorstandsvorsitzender der Welthungerhilfe sowie David Regan, der Vorstandsvorsitzende von Concern Worldwide, im Vorwort zum Bericht. „Hinter diesen alarmierenden Statistiken verbirgt sich ein Zustand der permanenten Krise, verursacht durch weitverbreitete Konflikte, die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels, wirtschaftliche Herausforderungen, Schuldenkrisen und Ungleichheit. Dennoch haben einige Länder gezeigt, dass Fortschritte möglich sind.“
Der diesjährige Bericht legt den Schwerpunkt auf den Zusammenhang zwischen fehlender Geschlechtergerechtigkeit, Ernährungsunsicherheit und den Folgen des Klimawandels. In einem Gastbeitrag bemängeln Nitya Rao (University of East Anglia), Siera Vercillo (Wageningen University) und Gertrude Dzifa Torvikey (University of Ghana), dass trotz „jahrzehntelanger aufrüttelnder Rhetorik über die Notwendigkeit, gleiche Rechte und Chancen von Männern und Frauen zu gewährleisten (…) nach wie vor eine große Ungleichheit zwischen den Geschlechtern“ bestehe. Diese genderspezifischen Ungleichheiten beeinflussen nicht nur das gesamte Leben der Frauen – sie haben auch fatale Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit, die Ernährung und die Resilienz der Welt gegenüber dem Klimawandel. Frauen sind nach wie vor am stärksten von Ernährungsunsicherheit betroffen: In einigen Ländern schlägt sich das mit bis zu 19 Prozentpunkten in der Statistik nieder. „Besonders gravierend ist die Lage in konfliktbetroffenen Gebieten. Frauen, die arm sind, auf dem Land leben, Migrantinnen, Flüchtlinge oder in informellen Beschäftigungen tätig sind, sind noch stärker gefährdet. Selbst in Friedenszeiten essen Frauen und Mädchen weltweit aufgrund der Ungleichheiten, die in Kulturen, Gemeinschaften und Haushalten herrschen, oft als Letzte und am wenigsten“, schreiben die Wissenschaftlerinnen. Auch Ernährungssysteme im weiteren Sinne diskriminieren Frauen. Ansätze in der Agrar-, Ernährung- und Finanzpolitik berücksichtigen meist nicht die zugrundeliegenden Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, z. B. diskriminierende Normen, Arbeitsbelastungen und Landvererbungsregelungen. Selbst in Ländern, in denen die Landrechte von Frauen im Gesetz verankert sind, schränken soziokulturelle Normen und Praktiken ihren Zugang zu und ihren Besitz von Land ein.
Die Autorinnen verweisen darauf, dass Gendergerechtigkeit – das heißt Gleichstellung zwischen Menschen in allen Lebensbereichen – ist für eine gerechte Welt und die Verwirklichung von Klima- und Ernährungsgerechtigkeit entscheidend ist. Sie besteht aus drei miteinander verbundenen Dimensionen: Anerkennung, Umverteilung und Repräsentation. Was dies konkret bedeutet, wie der Genderaspekt sich in Politik und Programmplanung niederschlagen muss und welche Reformen nötig sind, um Gendergerechtigkeit auf allen Ebenen zu erreichen – von Einzelpersonen bis hin zu Systemen und von formellen Mechanismen bis zu informellen Normen – ist in der deutschen Fassung des Berichts nachzulesen. „Während der Zugang zu Ressourcen für Frauen unerlässlich ist, müssen strukturelle Ungleichheiten – wie Klassendynamik, zunehmende Einkommensungleichheit, Unternehmenskontrolle über Produktionssysteme und mangelnde hochwertige Basisdienstleistungen – angegangen werden, um einen echten systemischen und sozialen Wandel zu ermöglichen“, fordern Rao, Vercillo und Torvikey in ihrem Beitrag. Auch Mathias Mogge schließt sich dem Appell an: „Geschlechtergerechtigkeit ist ein wichtiger Hebel, um den Hunger nachhaltig zu beseitigen. Regierungen müssen in Gesundheit, Bildung und ländliche Entwicklung investieren, um die bestehenden Ungleichheiten zu beseitigen und Frauen besseren Zugang zu Ressourcen und Entscheidungen zu ermöglichen“, betont der Vorstandsvorsitzende der Welthungerhilfe. (ab)