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31.01.2024 |

Kritischer Agrarbericht fordert mehr Mut zur Transformation der Landwirtschaft

Tiere
Tierhaltung im Fokus des KAB (Foto: CC0)

Der Januar stand in Berlin wie gewohnt ganz im Zeichen der Landwirtschaft – dieses Jahr noch etwas sichtbarer als ohnehin: Am Berliner Messegelände wehten die Fahnen der „Grünen Woche“ im Wind, Trecker rollten durch die Stadt und 8.000 Menschen demonstrierten in eisiger Kälte unter dem Motto „Wir haben es satt“ für die Agrarwende. Und in ebenso bewährter Tradition erschien auch am 18. Januar der „Kritische Agrarbericht 2024“, der zunächst vormittags auf der Grünen Woche präsentiert wurde und am Abend auf einer Veranstaltung in der Heinrich-Böll-Stiftung mit einigen Autor*innen diskutiert werden konnte. Es ist bereits die 32. Ausgabe, die das AgrarBündnis e.V., ein Zusammenschluss von 26 Organisationen aus Landwirtschaft, Umwelt-, Natur- und Tierschutz sowie Verbraucher- und Entwicklungspolitik, herausbringt. Auf 344 Seiten formuliert der Bericht Kritik am derzeitigen Agrarsystem und zeigt Alternativen auf. „Tiere und die Transformation der Landwirtschaft“ lautet der diesjährige Schwerpunkt, den 24 der 46 Beiträge behandeln. „Die anhaltende gesellschaftliche Diskussion über die Nutztierhaltung hat zu einer großen Verunsicherung in der Landwirtschaft geführt“, betont Frieder Thomas, Geschäftsführer des AgrarBündnis. „Die Zahl der tierhaltenden Betriebe sinkt dramatisch, während die Fleischimporte zunehmen.“

Der Bericht beginnt mit einer nüchternen Bestandsaufnahme. Noch vor zwei Jahren habe Aufbruchstimmung geherrscht. „Der Ball liegt auf dem Elfmeterpunkt. Jetzt muss man nur noch schießen“, war eine beliebte Metapher in der Agrardebatte. Die Zukunftskommission Landwirtschaft hatte ihren Abschlussbericht und das Kompetenzwerk Nutztierhaltung (Borchert-Kommission) seine Empfehlungen für den Umbau der Tierhaltung vorgelegt. „Alles schien gesagt, durchdacht und durchgerechnet zu sein, was es braucht, um Landwirtschaft und Tierhaltung zukunftsfest zu machen“, so die Herausgeber. Die Kompromisse und Vorschläge für eine Transformation des Agrar- und Ernährungssektors kamen von einem denkbar breiten Zusammenschluss unterschiedlichster Interessensgruppen und waren mit tatkräftiger Unterstützung der Wissenschaft erarbeitet worden. Sie hätten als „Steilvorlage für die Politik“ dienen können. Doch den seit fast zwei Jahren andauernden Krieg Russlands gegen die Ukraine nutze vielmehr die Agrarlobby, um Kernpunkte der EU-Agrarreform und die weitere Ökologisierung der Landwirtschaft auszuhebeln. „Was wir derzeit erleben, ist ein agrarpolitisches Rollback auf allen Ebenen, in Brüssel ebenso wie in Berlin.“ Die notwendige Transformation hin zu einem gesunden, gerechten, umweltfreundlichen und für alle Beteiligten auch wirtschaftlich tragfähigen Agrar- und Ernährungssystem drohe an parteipolitischen Querelen, fehlender Finanzierung, aber auch an mangelnder Einsicht in seine gesellschaftliche und ökonomische Notwendigkeit zu scheitern. Die Selbstauflösung der Borchert-Kommission sei symptomatisch für den Stillstand. Verbraucher*innen wünschten sich zwar mehr Tierschutz und eine klimafreundlichere Tierhaltung, greifen aber angesichts enorm gestiegener Lebensmittelpreise im Supermarkt doch zum Billigangebot – „verleitet von Rabattschlachten der vier großen Handelsketten, die ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht werden“. Zudem würden die Bäuerinnen und Bauern von einer Politik im Stich gelassen, die nicht in der Lage sei, den Betrieben bei dem Umbau ihrer Tierhaltung die nötige finanzielle Unterstützung und vor allem Planungssicherheit zu geben.

Zunächst stellt Wolfgang Reimer, Vorsitzender der Agrarsozialen Gesellschaft e.V., einleitend fest, dass die Transformation der Landwirtschaft nur mit den Tieren gelingen kann, nicht ohne sie. Weder die Fortschreibung des bisherigen Trends mit industrieller Tierhaltung noch die Abschaffung der Tierhaltung seien die Lösung. Vielmehr müssten dort, wo es die natürlichen Bedingungen zulassen, der Pflanzenbau und die Tierhaltung wieder stärker verbunden werden, um die natürliche Produktivität zu nutzen. Für Wiederkäuer müsse die Haltung und Zucht auf die optimale Ausnutzung des Raufutters vom Grünland mit deutlich geringeren Kraftfuttergaben ausgerichtet werden. Die Geflügel- und Schweinehaltung dürfe nicht wie bisher weltweit über ein Drittel der Getreideflächen und zwei Drittel des Sojas vom Acker verschlingen, sondern müsse stärker als bisher Reststoffe aus Landwirtschaft und Ernährungsindustrie verwerten und Kulturen, die mit der Erweiterung der Ackerbaufruchtfolgen angebaut werden. Doch letztendlich hätten alle derzeit diskutierten Umbaukonzepte einen Rückgang der Tierhaltung zur Folge. Über die folgenden 11 Kapitel verteilt erstreckt sich ein breitgefächertes Potpourri an Artikeln und Analysen zu den vielen Facetten des Schwerpunktthemas. Xenia Brand, Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), hat die Düngepolitik herausgepickt. Eine sinnvolle Düngepolitik müsse sowohl die Ziele aus dem Gewässer- und Klimaschutz verfolgen, als auch das Verursacherprinzip stärken, fordert sie. Die Gebietsausweisung der Roten Gebiete etwa werde von vielen Landwirt*innen als willkürlich betrachtet, auch aufgrund sich ständig ändernder Gebiete. Das Düngerecht müsse viel stärker als bisher beim Verursacher ansetzen, d. h. es brauche eine einzelbetriebliche Betrachtung und eine verursacherbezogene Adressierung der Stickstoffüberschüsse. Betriebe mit niedrigen Stickstoff- und Phosphorsalden, die deutlich unter den zulässigen Obergrenzen liegen, müssten entlohnt werden. Statt wie bisher auf Sanktionen solle stärker auf Anreize und Honorierungen gesetzt werden. „Für die landwirtschaftlichen Betriebe sollte Planungssicherheit und ein Anreizsystem entstehen, das im Ergebnis zu mehr Gewässer und Klimaschutz führt“, lautet Brands Fazit. Berit Thomsen von der AbL befasst sich mit der Transformation der Tierhaltung für Betriebe mit Weide- und mit Anbindehaltung und zeigt auf, welche ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekte in dem erforderlichen Veränderungsprozess zu berücksichtigen sind. Der Biobauer und Abgeordneter der Grünen im EU-Parlament Martin Häusling hat das Thema Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung gewählt. In der Veterinärmedizin müsse dringend gehandelt werden, um Antibiotikaresistenzen vorzubeugen. Änderungen in den Tierhaltungssystemen, bei der Fütterung und in der Zucht seinen nötig mit besonderer Handlungsdruck beim Umgang mit den sogenannten Reserveantibiotika. Es brauche schnellstens einen Systemwechsel „weg von Haltungsbedingungen, die krank machen, hin zu möglichst geschlossenen, tiergerechten Betrieben“.

Kapitel 2 widmet sich Welthandel und -ernährung. Stig Tanzmann, Referent für Landwirtschaft bei Brot für die Welt, beleuchtet den Hype um alternative Proteine mit Blick auf das Menschenrecht auf Nahrung. Die Produktion von und die Debatte um alternative Proteine und Fleisch­, Fisch­ und Milchersatzprodukte habe erfreulicherweise stark an Fahrt aufgenommen. Bekanntestes Beispiel in Deutschland sei die vegane Neuerfindung der Rügenwalder Mühle. Global gebe es kaum einen Agrar­ oder Ernährungskonzern, der nicht im Feld um alternative Proteine und Fleisch­, Fisch­ und Milchersatzprodukte aktiv sei. Angesichts starker Wachstumserwartungen wird viel Geld in Start­ups gepumpt. Hier gelte es, der drohenden Dominanz der Industrie vorzubeugen. Die Debatte um alternative Proteine dürfe nicht weiter dem Markt überlassen werden, sondern müsse über völkerrechtliche Vereinbarungen in den Vereinten Nationen von staatlicher Seite strukturiert und auf Basis der Menschenrechte reguliert werden. Auch alternative Proteine auf der Basis von Insekten bedürfen einer internationalen Regulierung. Insekten sind wichtige Bestandteile vieler Ernährungssysteme des globalen Südens und es müsse verhindert werden, dass sich Agrar­ und Ernährungskonzerne Insekten patentieren, Bestände ohne einen Vorteilsausgleich nutzen oder der globale Norden den traditionellen Nutzer*innen Hygienestandards aufoktroyiere. Bei dem gesamten Hype dürfe nicht vergessen, dass der Großteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche Weideland sei, das sich eben als Futter für Wiederkäuer eigne. Auch die Weltmeere spielten eine bedeutete Rolle bei der globalen Proteinversorgung. Daher dürfte die Welternährungs­ und Tierhaltungsdebatte nicht nur von der westlichen Perspektive geprägt werden, die Kleinfischer:innen, Pastoralisten und nomadische Tierhalter:innen häufig vernachlässige.

Im Beitrag „Die Hähnchen fliegen immer noch nach Afrika“ macht Francisco Marí, Referent für Welternährung, bei Brot für die Welt, auf ein Thema aufmerksam, um das es in letzter Zeit etwas stiller geworden ist, obwohl es nichts an Brisanz eingebüßt hat: der Export von Geflügelfleisch nach Afrika. Da in Europa mit Vorliebe Hähnchenbrust gegessen wird, die nur 15-20% der Tiere ausmacht, besteht quasi eine Überproduktion an Fleisch. Deutschland importiert etwa noch zusätzlich Hähnchenfilets. Die ungeliebten Teile werden in andere EU-Länder, nach Asien oder eben nach Afrika exportiert – Mari nennt dies ein wahres „Hähnchenroulette“ von Fleischimporten und -exporten. 2021 erreichten bis zu 750 Millionen Kilo Hähnchenfleisch aus EU-Ländern Afrika. Dazu kommen 1,5 Milliarden Kilo aus den USA und Brasilien, zum Teil auch aus Argentinien und Kanada. Die Märkte afrikanischer Länder, und zwar nicht mehr nur Westafrika, werden überschwemmt, Produzent*innen vor Ort können mit den Preisen der Billigimporte nicht mithalten und die kleinbäuerliche Tierhaltung wird von lokalen Märkten verdrängt. Unfaire Handelsregeln können den Dumpingimporten nur wenig entgegensetzen. Doch Mari berichtet auch von einigen Ländern, die früh auf strikte Importverbote für Hähnchenfleisch gesetzt haben und erfolgreich Arbeitsplätze in der heimischen Geflügelproduktion schaffen und stabile Preise und Einkommen vor allem für Kleintierhalter:innen garantieren konnten. So wurden in Kamerun seit dem Importverbot 2006 in der Geflügelmast 320.000 Arbeitsplätze geschaffen. In Nigeria sollen laut Agrarministerium über 2 Millionen Menschen in der Hähnchenmast beschäftigt sein, die 600.000 Tonnen produziert. Im Senegal gibt es laut Geflügelverband in dem Sektor 500.000 Arbeitsplätze. „In allen diesen Ländern können inzwischen auf den Märkten die lebend angebotenen Hühner vor Ort geschlachtet und Hühnerteile auf den Märkten frisch erworben werden. Ärmere Menschen können sich also auch ein paar billige Hühnerflügel oder Hälse leisten“, schreibt Mari und zerpflückt damit das Argument von Befürworter*innen einer industriellen Agrarproduktion und Agrarkonzernen, es sei unfair, armen Menschen, die sich das lokale Huhn nicht leisten können, durch Importbeschränkungen die Chance zu nehmen, sich mit billigem Fleisch zu ernähren. Damit es afrikanischen Staaten gelinge, eine eigene Wertschöpfung zur Fleischproduktion aufbauen, statt wertvolle Devisen an ausländische Fleischkonzerne zu zahlen, müssten sie laut Mari handelspolitische Maßnahmen ergreifen, wie es die EU schon lange erfolgreich selbst zum Schutz der eigenen Geflügelindustrie vor Billigimporten tut. Das „Zaubermittel“ heiße Zollquoten. Aber ohne den massiven Abbau der Mastkapazitäten in der EU, ein Ende der bisherigen Massentierhaltung und Förderung tiergerechter und ökologischer Haltungsformen sowie ein verändertes Konsumverhalten der EU-Verbraucher*innen werde sich an der Problematik nichts ändern.

Die hier genannten Themen sind lediglich ein kurzes Reinschnuppern in die ersten beiden Kapitel des Berichts. In den Folgekapiteln Ökologischer Landbau, Produktion und Markt, Region, Natur und Umwelt, Wald, Tierschutz und Tierhaltung, Gentechnik, Agrarkultur sowie Verbraucher und Ernährungskultur verbergen sich viele weitere spannende Artikel, nicht nur zum Thema Tierhaltung. Die Autor*innen befassen sich auch mit Alternativen zum Pestizideinsatz in Politik und Praxis, dem drohenden Dammbruch durch das Aushöhlen des Vorsorgeprinzips bei neuen Gentechnikverfahren oder stellen Überlegungen zu möglichen Zusammenhängen zwischen Geschmack und biologischer Vielfalt bei Obst und Gemüse an. Alle Artikel können online gelesen oder als PDF heruntergeladen werden und wem die Klickerei zu viel wird, kann sich auch beim AbL-Verlag ein Printexemplar bestellen. Zudem haben die Autor*innen der zehn Jahresrückblick-Artikel (Entwicklungen & Trends) für das jeweilige Politikfeld je fünf Kernforderungen an die Bundesregierung, aber auch an andere politische Entscheidungsträger*innen sowie Akteur*innen der Zivilgesellschaft, formuliert, die auch als separates Dokument zum Download bereitstehen. Die Herausgeber*innen betonen, dass es an durchdachten Empfehlungen und Konzepten, an positiven Beispielen aus der Praxis, wie es anders gehen könnte, wahrlich nicht mangle. Daher fordert das AgrarBündnis von der Politik mehr Mut und Unterstützung bei der Transformation der Landwirtschaft. „Gegen die Mutlosigkeit“ ist die Pressemitteilung zur Veröffentlichung des Berichts überschrieben, der trotz all der widrigen Umstände „ein Dokument der Zuversicht“ sei – oder zumindest der Unbeirrbarkeit. Mit dem Bericht wollen die Herausgeber*innen den Ball „immer wieder auf den Elfmeterpunkt“ legen. „Schießen (und treffen) müssen andere.“ Die Nachspielzeit jedenfalls laufe. (ab)

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