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21.01.2022 | permalink
Kritischer Agrarbericht: Transformation wagen, faire Preise für Lebensmittel!
Mit einer Bestandsaufnahme der aktuellen agrarpolitischen Debatten und einem Katalog von 50 Kernforderungen an die neue Bundesregierung wartet der soeben erschienene „Kritische Agrarbericht 2022“ auf. Es ist die mittlerweile 30. Ausgabe des Jahrbuches, das vom AgrarBündnis e.V., einem Zusammenschluss von derzeit 25 Verbänden der bäuerlich-ökologischen Landwirtschaft, Entwicklungszusammenarbeit und Kirchen sowie aus Umwelt-, Natur- und Tierschutz, herausgegeben wird. Das 352 Seiten starke Buch, das auch online bereitsteht, will die gesellschaftliche Auseinandersetzung um eine nachhaltige Transformation von Landwirtschaft und Ernährung in Deutschland, Europa und weltweit anstoßen. Im Fokus dieser Ausgabe steht das Thema „Preis Werte Lebensmittel“. Präsentiert wurde der Bericht am 20.1. auf einer Online-Pressekonferenz. Die Herausgeber zeigen sich in Bezug auf die neue Bundesregierung und die Ausrichtung der Agrarpolitik zunächst zuversichtlich. Vieles von dem, was in den Verbänden an Positionen erarbeitet worden sei, finde sich auch im Koalitionsvertrag wieder. Frieder Thomas, Geschäftsführer des AgrarBündnisses, betonte jedoch, dass es jetzt dringend notwendig sei, den Reformstau aufzulösen und die dringend notwendige Transformation der Landwirtschaft anzugehen.
13 Kapitel des Berichts befassen sich mit dem Schwerpunktthema. „Wir müssen wieder etwas mehr über Preise reden“, sagte Thomas in der Videokonferenz. „In der Vergangenheit haben wir uns in der Agrarpolitik relativ stark auf die Förderung konzentriert, um Veränderungen voranzutreiben. Wir haben versucht, das, was die Menschen an der Ladentheke nicht bereit waren zu bezahlen, über Fördermittel zu kompensieren. Das ist nicht ganz falsch, aber es reicht nicht aus.“ Das angemessene Einkommen für Bäuerinnen und Bauern und die Kosten für den Umbau in Richtung mehr Nachhaltigkeit sei so nicht vollständig zu finanzieren. „Alle Berechnungen, die wir haben, machen deutlich, dass die derzeit öffentlich vorhandenen Mittel für angemessene Erzeugerpreise und für eine Transformation der Landwirtschaft bei Weitem nicht ausreichen“, so Thomas. Es sei notwendig zu differenzieren: Es gehe einerseits um faire Erzeugerpreise, aber auch um Preise an der Ladentheke und vor allem um Verbraucherpreise, die die „Wahrheit“ sagen.
Wichtig seien drei Aspekte: erstens eine faire Verteilung der Erlöse in der Wertschöpfungskette. Das Stichwort laute „Verhandlungen auf Augenhöhe“. Hierzu beschäftigen sich Philippe Boyer und Marita Wiggerthale im Kapitel „Mehrwert fair verteilen“ mit gesetzlichen Bestimmungen in Frankreich und Spanien, die verhindern sollen, dass Verarbeiter und Handel die Erzeugerpreise unter die Produktionskosten drücken können. Frankreich hat 2018 nach einem Beteiligungsprozess der Stakeholder der Landwirtschafts- und Lebensmittelbranche das Gesetz ÉGalim verabschiedet und Spanien 2020 eine Konkretisierung zum Lebensmittelliefergesetz „Ley de la Cadena Alimentaria“. „Beide Initiativen haben das Ziel, den Mehrwert zwischen den einzelnen Stufen der Wertschöpfungsketten fairer und d. h. stärker zugunsten der landwirtschaftlichen Lieferanten zu verschieben. Frankreich versucht über eine Neuberechnung der Mindest-Einstandspreise die Margen zu verschieben. In Spanien muss die Ermittlung der Produktionskosten in die Verträge aufgenommen werden“, schreiben die Autor*innen. Ähnliche Maßnahmen erwartet Thomas auch von der neuen Bundesregierung. Wiggerthale formuliert basierend auf den Beobachtungen zu Frankreich und Spanien Schlussfolgerungen für die Debatte in Deutschland und nennt Aspekte, die bei einem Verbot des Einkaufs unterhalb der Produktionskosten, berücksichtigt werden sollten.
Als zweiten Aspekt nennt Thomas die Notwendigkeit der Bilanzierung von Qualitäten und Leistungen, damit so gegebenenfalls einen Mehrpreis an der Ladentheke erreicht werde oder dort, wo das nicht gelingt, eine Bedingung für Fördermittel formuliert werden kann. Der BUND-Bundesvorsitzende Olaf Bandt kritisierte, dass immer noch viel Geld mit der Gießkanne über Europas Äcker und Wiesen verteilt werde: „Die EU-Agrarmilliarden müssen dafür genutzt werden, gesellschaftliche Leistungen der Landwirtinnen und Landwirte zu honorieren. Wer mehr für den Klimaschutz macht, die Tiere besser hält, weniger Pestizide einsetzt und die Biodiversität schützt, muss unterstützt werden." Drittens bedürfe es der Bilanzierung externer Kosten. Hier gibt es unterschiedliche Ansätze, denen gemein ist, dass negative Begleiterscheinungen bestimmter Produktionsformen, die auf Kosten von Natur und Allgemeinheit gehen, – Thomas bezeichnet sie auch als „Kollateralschäden“ – in Berechnungen münden, um das Ergeben von Steuern und Abgaben auf Produktionsweisen oder Produkte zu rechtfertigen, die zu diesen externen Kosten führen. Dann könne man dieses Geld nehmen, um damit positiv zu fördern, oder damit auch zu erreichen, dass sich das Konsumverhalten ändert. So würden bewusste Konsumentscheidungen und mehr Fairness am Markt ermöglicht.
Im Kapitel „Auf der Suche nach dem ‚wahren Preis‘“ beschäftigen sich Allegra Decker, Amelie Michalke und Tobias Gaugler mit den Chancen und Grenzen von True Cost Accounting bei Lebensmitteln. Sie zeigen zunächst die Schäden auf, die durch die Produktion unserer Lebensmittel und deren Beitrag zum Klimawandel entstehen, die wiederum hohe Folgekosten nach sich ziehen. Diese Kosten fallen nicht den Verursacher*innen und Produzent*innen zu Last, sondern müssen von allen getragen werden. Das verstoße gegen das Verursacherprinzip der Vereinten Nationen, welches besagt, dass die Verantwortlichen für Schäden aufkommen müssen. Darüber hinaus sei der Status quo landwirtschaftlicher Systeme in vielerlei Hinsicht nicht mit den UN-Nachhaltigkeitszielen (SDGs) vereinbar. Als Beispiele für externe und nicht in Lebensmittel eingepreiste Kosten führen die Autor*innen Maßnahmen zur Trinkwasseraufbereitung infolge zu hoher Nitratgehalte oder Schäden durch Extremwetterereignisse aufgrund des Klimawandels auf. Dass diese Kosten nicht in den Preisen enthalten (internalisiert) seien, stelle einen „Marktfehler“ dar. „Es stellt sich daher die Frage, welche Lebensmittel wie viel teurer werden müssten, damit die bei ihrer Produktion verursachten Umweltfolgekosten verursachergerecht einbezogen sind und sich der Konsum der Produkte entsprechend korrekter Marktpreise an die unverzerrte Nachfrage anpassen kann.“ Das Kapitel widmet sich dem „True Cost Accounting“, wobei unter Zuhilfenahme von Lebenszyklusanalysen oder Ökobilanzen Emissionen und Ressourcenverbrauch der Produktion ermittelt und eingepreist werden. Es sei Aufgabe der Politik, Kostenwahrheit verbindlich einzuführen. „Denkbar wären hierzu ordnungspolitische Instrumente wie die Besteuerung von CO2-Emissionen oder Stickstoffdünger. Diese Maßnahmen sollten möglichst früh in der Wertschöpfungskette ansetzen – also bereits in der Vorproduktion“, schreiben Decker, Michalke und Gaugler. Trotz teurerer Lebensmittelpreise wäre dieses Vorgehen für die Verbraucher*innen kostengünstiger als das Verharren im Status quo.
Die ordnungspolitische Umsetzung und Einpreisung von Umweltschäden würde den ökologischen Fußabdruck der Wirtschaft verkleinern, Einfluss auf die Kaufentscheidungen von Konsument*innen nehmen und nachhaltige Landwirtschaft fördern, lautet das Fazit der Autor*innen. Der Staat würde über verursachergerechte Lebensmittelpreise Mehreinnahmen generieren, die er in Form einer Klimadividende an umweltbewusst handelnde Landwirt*innen und Bürger*innen zurückverteilen könnte. Der gelernte Landwirt und Diplom-Agraringenieur Nikolai Fuchs, Mitglied im Vorstand der GLS Treuhand und Stiftungsrat der Zukunftsstiftung Landwirtschaft, schreibt, dass es wohl wenig überraschend ein Maßnahmenmix sein müsse, um hier Veränderungen herbeizuführen: ein Mix aus Abschaffung umweltschädlicher Subventionen, (neuen) Lieferkettengesetzen, Einführung von True-Cost-Konzepten, Preisverhandlungen zwischen Landwirtschaft und Handel ‚auf Augenhöhe‘, ja, auch Ordnungsrecht und dazu mehr Umwelt- und Verbraucherbildung etc. „Aber letztlich werden wir es als Gesellschaft bzw. als Bürger*innen nur schaffen, wenn wir immer auch die Handlungslücke bei uns selbst kleiner bekommen: Das Tun trainieren, wie einen Muskel, durch mehr von dem Tun, was wir ‚eigentlich‘ wollen, angefeuert durch unseren Willen und Wunsch, den Planeten für unsere Kinder und Enkel lebenswert zu erhalten“, so Fuchs. (ab)