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06.01.2021 | permalink
Fleischatlas fordert grundlegenden Wandel in der Fleischindustrie
Ein grundlegender Wandel in der Nutztierhaltung und globalen Fleischproduktion ist bisher ausgeblieben – trotz Klimakrise und Skandalen in der Fleischindustrie. „Im Gegenteil: Massentierhaltung, Höfesterben, Futterimporte und Pestizideinsatz schreiten ungebremst voran“, warnen die Heinrich-Böll-Stiftung, der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und Le Monde Diplomatique in ihrem heute veröffentlichten „Fleischatlas 2021“. Die Broschüre bietet auf 50 Seiten und mit über 80 Grafiken eine aktuelle Faktensammlung zu Fleischproduktion und -konsum in Deutschland und weltweit. Die Herausgeber fordern von der Politik einen grundlegenden Umbau der Fleischproduktion und gezielte Strategien, um den Verbrauch mindestens zu halbieren. Der globale Fleischkonsum hat sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt, schreiben die Autoren. Die Produktion ist zwar 2019 das erste Mal seit 1961 weltweit nicht gewachsen, sondern um 2% auf 325 Millionen Tonnen gesunken, doch das lag eher an der Afrikanischen Schweinepest als an einem Kurswechsel. Wenn dieser nicht eingeläutet wird, könnte die Produktion bis 2028 auf rund 360 Millionen Tonnen Fleisch im Jahr steigen. Schon jetzt entfallen auf die Tierhaltung 14,5% der globalen Treibhausgas-Emissionen und sie trägt zum Artenschwund bei. „Die industrielle Fleischproduktion ist nicht nur für prekäre Arbeitsbedingungen verantwortlich, sondern vertreibt Menschen von ihrem Land, befeuert Waldrodungen, Pestizideinsätze und Biodiversitätsverluste – und ist einer der wesentlichen Treiber der Klimakrise“, betont Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.
Im Vorwort des Atlas mahnen die Herausgeber: „Im Jahr 2015 haben sich die Staats- und Regierungschefs der Welt auf die globalen Entwicklungsziele (SDGs) geeinigt. Der Schutz des Klimas, der Biodiversität, der Meere und allem voran das Ende von Hunger und absoluter Armut stehen auf der Liste der 17 Ziele. Die Landwirtschaft ist eng mit dem Erfolg der Ziele verknüpft, doch steht gerade die industrielle Fleischproduktion dem im Weg.“ Und die Zeit läuft: „Die globalen Nachhaltigkeitsziele müssen wir in neun Jahren erreichen. Und das bedeutet, dass die Industrieländer ihren hohen Fleischverbrauch auf Kosten des Klimas, der Biodiversität, globaler Gerechtigkeit und des Tierwohls um mindestens fünfzig Prozent reduzieren müssen.“ Die Autor*innen räumen ein, dass Ernährung zwar individuell sei, doch wie auf die Produktionsbedingungen könne der Staat mit Gesetzen und Regeln auch Einfluss auf den Konsum zugunsten von Nachhaltigkeit und Gesundheit nehmen. „Instrumente dafür gibt es zahlreiche: fiskalische, informatorische und rechtliche. Vor allem aber bedarf es eines entschiedenen politischen Willens zur Veränderung.“ Mit Blick auf Deutschland beklagen die Herausgeber jedoch, dass die Bundesregierung offenbar kein Interesse an einer „Fleischwende“ zeige.
Deutschland produzierte 2019 immer noch 8,6 Millionen Tonnen Fleisch. Bei der Erzeugung von Schweinefleisch und Milch in der EU nimmt die Bundesrepublik eine Spitzenposition ein und erreicht Marktanteile von 21% bzw. 20%. Zudem ist Deutschland ein Exportland: Es produziert 16% mehr, als im Inland konsumiert wird. Bei Schweinefleisch liegt der Selbstversorgungsgrad sogar bei 19%. „Riesige Mengen werden exportiert. Diese Abhängigkeit vom Weltmarkt schadet der Umwelt, den Tieren und den bäuerlichen Betrieben“, kritisiert Olaf Bandt, Vorsitzender des BUND. Zudem würden die Höfe immer größer, während die Gesamtzahl sinke. Seit 2010 ist die Tierzahl pro Betrieb bei Mastschweinen von 398 auf 653 gestiegen. Bedenklich sei, dass die Zahlen bei Schweinen besonders in Nordrhein-Westfalen und Niedersachen gestiegen sind – gerade in jenen Regionen, die ohnehin aufgrund der überdurchschnittlich hohen Tierbestandsdichte Probleme auftreten. Damit wird die Verschmutzung des Grundwassers in diesen Regionen weiter verschärft. „Auf immer weniger Höfen leben immer mehr Tiere. Wir dürfen hier keine weiteren bäuerlichen Betriebe verlieren, wenn wir den Umbau schaffen wollen“, mahnt Bandt.
Die Herausgeber verweisen darauf, dass die Bevölkerung Veränderungen in der Tierhaltung befürworte. Gerade bei der jüngeren Generation sei zunehmend Bewusstsein und der Wunsch nach einem Wandel vorhanden. Eine repräsentative Umfrage für den Atlas zeigt, dass mehr als 70% der 15 bis 29-Jährigen die Fleischproduktion in Deutschland in ihrer jetzigen Form ablehnten. 40% der Befragten gaben an, wenig Fleisch zu essen und 13% ernähren sich nur vegetarisch oder vegan – doppelt so viele wie quer durch alle Altersgruppen der Bevölkerung. Nicht nur aus Tierschutzgründen greifen viele junge Menschen lieber zum Veggie-Burger – auch die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie fanden 70% der Befragten abstoßend. Die Herausgeber unterstreichen, dass dank Corona-Krise und der Arbeit der Gewerkschaften die prekären Arbeits- und Wohnbedingungen der Beschäftigten ins Rampenlicht gerückt seien und in Deutschland nun immerhin Leiharbeit und Werkverträge in den Kernzprozessen verboten seien. Unmüßig nennt dies zwar ein gutes Zeichen, doch ein Ende der Ausbeutung markiere es nicht. „Die wirtschaftlichen Interessen der milliardenschweren Fleischindustrie und die Reformverweigerung der Politik halten uns auf einem dramatischen Irrweg, der die ökologischen Grenzen des Planeten sprengt“, so Unmüßig. Bandt appelliert an die Politik, dem gesellschaftlichen Wunsch nach dem Umbau der Tierhaltung endlich Rechnung zu tragen. „Dies erfordert eine weitreichende politische Neuausrichtung der Agrarpolitik, aber die Agrarwende wird ohne eine Ernährungswende nicht zu schaffen sein. Niedrige Preise machen es den Bäuerinnen und Bauern schwer, auf die gestiegenen Anforderungen nach mehr Umweltschutz und mehr Tierwohl zu reagieren“, betont er. Eine tierschutzgerechte Tierhaltung müsse endlich verlässliche finanzielle Grundlagen bekommen. (ab)