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17.12.2020 |

Studie: 385 Millionen Vergiftungen durch Pestizide pro Jahr

Pesticides
Pestizide im Reisfeld (Foto: Pixabay)

Jedes Jahr kommt es weltweit zu schätzungsweise 385 Millionen unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen – in etwa 11.000 Fällen mit tödlichem Ausgang. Das geht aus einer Studie hervor, die am 7. Dezember im Fachmagazin „BMC Public Health“ veröffentlicht wurde. Die Zahl der Menschen, die sich versehentlich eine Vergiftung durch Pestizide zuzogen, ist in den letzten Jahrzehnten zudem deutlich gestiegen. Zu diesem Ergebnis gelangten die Forscherinnen und Forscher nach einer umfassenden Auswertung von aktuellen Studien und Datenbankrecherchen. In Auftrag gegeben wurde die Studie vom Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN), einem Zusammenschluss von über 600 Nicht-Regierungsorganisationen und Einzelpersonen in über 90 Ländern. „Die aktuellen Zahlen verdeutlichen, wie sehr das Leid von Millionen von Menschen über Jahrzehnte massiv unterschätzt wurde, kommentierte Susan Haffmans, Referentin bei PAN Germany.

Auf der Suche nach globalen Zahlen zum Thema Pestizidvergiftungen stieß man bis dato stets auf die vielerorts zitierte Angabe, dass es jedes Jahr zu einer Million schwerwiegender unbeabsichtigter Pestizidvergiftungen kommt, von denen 20.000 Fälle tödlich enden. Diese Zahlen stammen aus einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 1990, die sich auf nur wenige Länder und Daten aus den 1980er Jahren stützte. Die Zahl der nicht gemeldeten Vergiftungen mit milderen Auswirkungen wurde basierend auf diesen WHO-Angaben auf 25 Millionen Fälle geschätzt. Die neue Studie liefert nun aktuelle Zahlen zum weltweiten Ausmaß des Problems. Die Autor*innen führten dafür zunächst eine systematische Analyse von über 800 wissenschaftlichen Publikationen durch, die zwischen 2006 und 2018 zum Thema veröffentlicht wurden. Letztlich berücksichtigt wurden Daten aus 157 geeigneten Studien, die insgesamt auf 741.429 nicht beabsichtigte Pestizidvergiftungen schließen lassen, von denen 7.508 einen tödlichen Ausgang hatten. Die meisten der Studien befassten sich mit arbeitsbedingten Vergiftungen bei Landwirt*innen und Landarbeiter*innen. Des Weiteren werteten die Autor*innen Informationen aus der Todesursachen-Datenbank der WHO aus. So konnten sie insgesamt 141 Länder weltweit abdecken und Länderübersichten erstellen. Dann schätzten die Wissenschaftler*innen die Zahl der in den jeweiligen Ländern jährlich vorkommenden unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen. Die weltweite Gesamtzahl wurde dann basierend auf nationalen Kennzahlen und Bevölkerungsdaten berechnet. Das Ergebnis: Geschätzt 385,5 Millionen Pestizidvergiftungen jährlich, davon 10.881 mit tödlichem Ausgang.

Umgerechnet bedeute dies, dass etwa 44% der in der Landwirtschaft tätigen Weltbevölkerung jedes Jahr mindestens eine Vergiftung erleiden, betonen die Verfasser*innen. „Die tagtäglichen Vergiftungen führen dauerhaft auch zu chronischen Erkrankungen, wie Krebs, zu neurologischen Schädigungen und zu Fruchtbarkeitsstörungen“, beklagt Susan Haffmans. „Wir müssen endlich ein schrittweises Verbot der schlimmsten Pestizide, der sogenannten hochgefährlichen Pestizide (HHPs) durchsetzen, um die Gesundheit und das Leben derjenigen zu schützen, die tagtäglich unsere Nahrung produzieren.“ Der Studie zufolge traten die meisten nicht-tödlichen Vergiftungsfälle in Südasien auf, gefolgt von Südostasien und Ostafrika. Die höchste nationale Einzelinzidenz wurde in Burkina Faso festgestellt, wo jährlich fast 84% der Bäuer*innen und Landarbeiter*innen unbeabsichtigte akute Pestizidvergiftungen erleiden. Ebenfalls sehr hoch ist der Anteil mit rund 82% in Pakistan und Kuwait. In Indien lag der Wert bei 62%, doch das Land vereint 60% der Vergiftungen mit tödlichem Ausgang auf sich. Am geringsten ist die Inzidenz in den USA, wo sich gerade einmal 0,05% der Landwirte und Landarbeiter unabsichtlich vergiften.

Dass die Zahl der weltweiten nicht-tödlichen, unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen deutlich höher geschätzt wird als einst von der WHO, ist den Studienautor*innen auch darauf zurückzuführen, dass sich der weltweite Pestizideinsatz in Tonnen von 1990 bis 2017 um etwa 80% erhöht hat. In Südamerika betrug der Anstieg gar 484% und in Asien 97%, während die Menge in Europa um 3% zurückgegangen sei, berechneten die Autor*innen basierend auf der FAO-Datenbank FAOSTAT. „Es ist also wahrscheinlich, dass jetzt weltweit viel mehr Landwirte und Arbeiter Pestiziden ausgesetzt sind bzw. durch häufigere Anwendung stärker ausgesetzt sind“, heißt es in der Studie. Zudem decke die aktuelle Studie eine größere Anzahl von Ländern ab. Dennoch sei davon auszugehen, dass die neuen Schätzungen das reale Ausmaß weiter unterschätzen, unter anderem dadurch, da viele Staaten über keine zentrale Meldestelle verfügten bzw. es keine Meldepflicht für Pestizidvergiftungsfälle gebe. „Wir wissen, dass es Einschränkungen bei den Daten über Pestizidvergiftungen gibt“, erläutert Javier Souza, Koordinator von PAN Lateinamerika. „Aber diese Studie offenbart unbeabsichtigte Pestizid-Vergiftungen deutlich als ein ernstes, globales Problem, das sofortiges Handeln erfordert. Hochgefährliche Pestizide müssen bis 2030 schrittweise vom Markt genommen werden, um die globalen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, und wir müssen zu gesünderen und widerstandsfähigeren Systemen wie der Agrarökologie übergehen“. Nicht in der Studie berücksichtigt sind übrigens jene Fälle, bei denen Vergiftungen mit Pestiziden absichtlich herbeigeführt wurden, zum Beispiel bei Suiziden von Landwirt*innen. Die Autor*innen verweisen lediglich auf eine systematische Auswertung von Daten aus den Jahren 2006 bis 2015, die ergab, dass im Zeitraum 2010-2014 jährlich zwischen 110.000 und 168.000 Menschen ihrem Leben mithilfe von Pestiziden ein Ende setzten. (ab)

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